Lehrer sind auch nur Menschen. Und nicht jeder trifft sich abends mit Kolleginnen abwechselnd zum Nordic Walking oder zum Fortgeschrittenenkurs in Seidenmalerei. Ich denke ich bin das Kuckucksei im Lehrerzimmer. Etwa wie ein Veganer, der ausversehen Metzger geworden ist oder ein Pilot mit Höhenangst. Oder wie eine Franzi van Almsick, die immer wieder vom Schwebebalken fällt weil sie noch nie jemand ins Wasser geschubst hat.

Mittwoch, 8. Februar 2017

Frau Müller ganz bildungspolitisch: Hört endlich auf uns zu verramschen!


Der überwiegende Teil meines zuweilen skurrilen Berufsalltags schafft es nicht in einen eigenen Blogartikel. Der Blogartikel "Biete Job - suche Fliesentisch" war der erste dieser Kategorie, zudem der erste je veröffentlichte und kommt bis heute bei den Lesern recht gut an.  
Die meisten Anekdoten, insbesondere die aus der Kategorie „Kognitiv stark benachteiligt“, gewinnen ihre Unsterblichkeit im world wide Kosmos nur durch ein mehr oder minder beachtetes Status-Update Frau Müllers bei Facebook. Die nun folgende kleine Geschichte, welche sich kürzlich exakt so zugetragen hat, soll mir heute als unterhaltsamer Einstieg in einen Artikel dienen, der auf gewohnt direkte Art auf einen gravierenden Missstand hinweisen soll.

Kollege M. bekam in seiner Funktion als „Springer“ die Aufgabe von der Schulleitung kurzfristig eine Doppelstunde Werken zu vertreten. Da Kinder mit erhöhtem Förderbedarf in einem so motorik-betonten Fach viel Anleitung benötigen, wird nicht klassenweise- sondern in Kleingruppen unterrichtet. Eine weitere Gruppe hatte regulär Unterricht bei mir. Im Nebenraum. 
Die umsichtige Kollegin, welche M. an diesem Tag vertrat, hatte die beiden Stunden inhaltlich bereits vorbereitet. M. begann nach dem Klingelzeichen die Stunde mit der für ihn typischen (für mich oft verzweifelt übertrieben wirkenden) Lockerheit. Kollegiale, gut gemeinte Hinweise meinerseits wurden mit einem „Is mir scheiß egal, Hauptsache die Stunde geht vorbei!“ beantwortet.   

Nach etwa zehn Minuten musste ich nach Nebenan um Arbeitsmaterial aus dem Schrank zu holen. Beim Gang durch das Zimmer fielen mir die verzweifelten Kinder auf, die hilflos versuchten mit den (zur Sicherheit) nahezu stumpfen Scheren eine Schablone aus einer Pappe auszuschneiden, die in Festigkeit und Dicke an Sperrholz erinnerte. Sogar ein Erwachsener hätte Blasen davon getragen. Im Vorbeigehen sage ich in kollegial-lockeren Ton zu M.: „Oh, da mutest du den Kindern aber was zu. Das lässt sich doch kaum schneiden“. Dreimal dürft ihr raten was ich zur Antwort bekam. Für die schlechten Rätsler: siehe oben. 

Etwa fünf Minuten später ging die Tür zu meinem Raum auf, darin stand M. mit den Worten: „Weißt du wo die Cutter-Messer sind?“ (offenbar hatte auch er die Überforderung der Kinder bemerkt und nach einer praktikableren Lösung gesucht). 
Ich: „Ähh… ja… hier… (ich gebe ihm die Kiste)… aber du weißt schon dass das gefährlich ist?“ 
Er: „Ich hab die belehrt (und dreimal dürft ihr raten)…“. Beim Blick nach nebenan kurze Zeit später bietet sich mir derselbe verzweifelte Anblick wie ein paar Minuten früher. Jedes Kind fuhrwerkt mehr oder weniger (eher weniger) geschickt mit einem Cuttermesser umher.

Weitere fünf Minuten später – die Tür öffnet sich erneut. Kollege M.: „Weißt du wo Pflaster sind?“ 
Ich: „Äh, ja, da – im Verbandskasten!“ M. wirkt etwas gestresster und verlässt mit dem Pflaster den Raum. Diesmal nicht ganz fünf Minuten später öffnet sich die Tür ein letztes Mal. M.: „Ich brauch mal mehr als Pflaster!“ – „Ja, im Verbandskasten…“

Bei der Erstversorgung der Wunde eilt ihm dann schließlich noch der unterrichtende Kollege der dritten Werkgruppe zu Hilfe. Mittlerweile ist der Schülerfinger, nachdem er später noch fachmännisch notfallmedizinisch versorgt wurde, gut verheilt. Keine bleibenden Schäden. In diesem Fall.

Diese kleine Geschichte, deren Absurdität mir wie so oft in ihrer Gänze erst viel später auffiel, steht symbolisch für ein Vergehen, das viel mehr kaputt macht, als ein Cuttermesser in ungeschickten Schülerhänden. Sie zeigt (zum Glück) ganz banal, was passiert, wenn man den Steinmetz zum Gärtner macht (ich kenne das Sprichwort vom Bock und dem Gärtner – es würde hier aber nicht passen weil es Kollege M. abwerten würde – das soll hier aber nicht das Ziel sein.)

Lasst es mich erklären. Nehmen wir an beide – Gärtner und Steinmetz – entscheiden sich ganz bewusst für ihren Beruf. Der Steinmetz, weil er die Beständigkeit seiner Produkte sowie die Kraft und Bestimmtheit schätzt, die es bedarf um diese zu formen. Der Gärtner wiederum ist fasziniert von der Veränderung und den individuellen Bedürfnissen, welche seine Schützlinge kennzeichnen. Wenn man nun von beiden Berufsgruppen erwartet, das Tätigkeitsfeld ohne intrinsische Motivation zu tauschen, kann es aller Wahrscheinlichkeit nach zu Schwierigkeiten kommen…

Kollege M. kam als studierter Germanist in Kombination mit dem Gymnasiallehramt an unsere Förderschule. Er hatte sich das nicht direkt ausgesucht. In unserem Bundesland werden leider ein Zuviel an Gymnasiallehrern und ein Zuwenig an Förderschullehrern ausgebildet. Die Lösung des Problems setzt fälschlicherweise erst NACH dem erfolgreichen Studienabschluss an indem diese Menschen, mehr oder weniger dazu genötigt werden sich „schulartfremd“ einsetzen zu lassen. Nach dem Motto „Friss, Vogel – oder stirb!“.

M. kennt sich aus mit Literaturwissenschaften, Etymologie und Kasusmarkierungen – man spürt deutlich Interesse an diesen Wissenschaften über den Beruf hinaus. Vermutlich hatte er sich bewusst für DIESES Studium entschieden. Für die Bedürfnisse lernschwacher Kinder hatte er weder Gespür noch Verständnis. Damit steht er symbolisch für eine Vielzahl von Kollegen, die in den letzten Jahren (un)freiwillig den Weg zu uns antraten, sich (zu Recht?) weigerten, ihre Ansprüche an die Schüler sowie ihre Vorstellungen von gutem Unterricht an unsere Klientel anzupassen und wenig später frustriert den Rückweg antraten.

Der schulartfremde Einsatz und seit neuestem die wachsende Zahl der Quereinsteiger in unserem Schulsystem mag vielleicht kurzfristig die Lösung eines Problems sein, das langfristig durch unattraktive Studien- und Arbeitsbedingungen verursacht wurde. Ich pflege immer zu sagen: wer in meinem Bundesland freiwillig Lehrer wird muss schon sehr gute Gründe dafür haben. Bei mir waren es persönliche. 
Früher oder später MÜSSEN die Verantwortlichen aber erkennen, dass es sich dabei nicht um eine Lösung sondern um ein Vergehen handelt. Man macht sich schuldig an ALLEN Beteiligten.

Beginnen wir bei den Kindern. Während der eingangs beschriebene Finger wohl ohne weitere Beeinträchtigungen verheilen wird, kann man nicht davon ausgehen, dass der Bildungsweg eines Kindes mit Symptomen der Legasthenie völlig unbeeinflusst bleibt von einem Lehrer, der ohne sich jemals mit diesem Störungsbild auseinandergesetzt zu haben, per Dienstanweisung dazu genötigt wird es durch den Schriftspracherwerb zu führen. 


Grundschuldidaktik ist in seiner Fächeraufteilung ein eigener Studiengang. Man übt über mehrere Semester, wie man Inhalte entsprechend erforschter Lerntheorien und kindlichen Bedürfnissen aufbereitet. Zusätzlich lernt man im förderpädagogischen Studium Defizite in allen Wahrnehmungsbereichen zu erkennen, mit entsprechenden Methoden zu kompensieren und im Ansatz zu therapieren. 
So wie ich das Recht darauf habe, dass der KfZ-Mechaniker weiß was er tut, wenn er bei meinem Auto die Bremsbeläge wechselt, haben unsere Kinder ein Recht auf fachrichtungsentsprechend ausgebildete Pädagogen. Es geht hier nicht um eine Vormittagsbetreuung während die Eltern dem Erwerb nachgehen. Es geht um einen LEBENSWEG!

Dann sind da diese bedauernswerten Kollegen. Aus Überzeugung haben sie sich ein Studium ausgesucht, mit Herzblut studiert und nun werden sie willkürlich an Schulen verteilt. Sie sagen Ja um ihre Existenz zu sichern und verkaufen damit ihre noch nicht mal richtig erwachte Freude am Lehrer-Job. Die Diskrepanz zwischen den eigenen Erwartungen und dem täglichen Berufs-Setting macht diese Menschen kaputt.

Und schließlich bin da noch ich. Sinnbildlich für alle Kollegen meiner Art. Was ist mein Studium noch wert, wenn diesen Job eigentlich „jeder“ machen kann?

Ich danke allen „Schulartfremden“, abgeordneten Lehrkräften und Quereinsteigern, die es schaffen (wollen) sich auf UNSERE Aufgabe einzulassen. Ich entschuldige mich bei den Zugehörigen dieser Gruppen, die sich durch meinen Artikel angegriffen fühlen. Ein Angriff war nicht mein Ziel – der Angriff gilt unser aller beruflicher Identität und er kommt NICHT aus meiner Richtung.

Nun ist das Problem da. Eine kurzfristige Lösung wird es wohl nicht geben. Vielleicht wäre eine Attraktivitätssteigerung des Lehrerberufs ein erster Schritt um die vielen Klugen, die nach der inhaltlich wirklich guten Lehrerausbildung hierzulande in andere Bundesländer abwandern, zum Bleiben zu bewegen. Bedarfsgerechte UND REALISTISCHE Regelung der Bewerberzahlen auf die verschiedenen Studiengänge könnte auch helfen, nur sollte die Wirklichkeit und nicht der Wunsch zum Berater in dieser Frage werden.

Übrigens: Mein eigenes Kind wurde in diesem Jahr eingeschult. Die Klassenlehrerin meldete sich nach einem Vierteljahr krank und ist es bis heute. Den so wichtigen Anfangsunterricht teilt sich eine Kollegin in Altersteilzeit mit einer abgeordneten Lehrerin aus dem Nachbarort. Drei Tage die Eine, zwei Tage die Andere. Eine Lösung für das zweite Halbjahr gibt es noch nicht. Geschweige denn für Klassenstufe 2. Ich hörte einst in meinem Studium in mehreren pädagogischen sowie lern- und entwicklungspsychologischen Seminaren wie wichtig ein Klassenlehrer gerade für Kinder zum Schulstart ist…   

Die oben kurz erwähnten News aus Absurdistan sowie meinem langweiligen Leben drumherum gibt es häufiger als nur mittwochs hier auf Facebook.

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