Lehrer sind auch nur Menschen. Und nicht jeder trifft sich abends mit Kolleginnen abwechselnd zum Nordic Walking oder zum Fortgeschrittenenkurs in Seidenmalerei. Ich denke ich bin das Kuckucksei im Lehrerzimmer. Etwa wie ein Veganer, der ausversehen Metzger geworden ist oder ein Pilot mit Höhenangst. Oder wie eine Franzi van Almsick, die immer wieder vom Schwebebalken fällt weil sie noch nie jemand ins Wasser geschubst hat.

Mittwoch, 27. Dezember 2017

Unbefleckte Empfängnis und der Soßen-Kloß-Kreislauf: gleich zwei Weihnachtsgeschichten



Vorwort: Wem es zu anstrengend ist, die fiktionalen Anteile des ersten Teils im Geiste von den non-fiktionalen zu trennen, dem empfehle ich das Weiterscrollen zum zweiten Teil...

Mittwoch, 20. Dezember 2017

Der unverhoffte Tod des Niveaus - Ein Weihnachtsmarkt-Krimi


Die Einen schauen sonntags in der von Microfaser umfangenen Sicherheit ihres Sofas einsam aber unversehrt einen Mord im Ersten. Die Anderen erleben den Sterbeprozess live in den eigenen vier Wänden - genauso unerwartet wie die Darsteller im Fernsehen. Mit einem einizigen, jedoch nicht ganz unwichtigen Unterschied: Nicht sie selbst verenden qualvoll durch Fremdeinwirken sondern das Niveau wird grausam niedergemetzelt. Drum nehmt euch in Acht, welch unangekündigten Besuchern ihr zukünftig die Tür öffnet, auch wenn sie mit gefüllten Gläsern frohlocken...

Es ist Sonntagabend kurz nach Neun. Ein junger Mann, nennen wir ihn Ben G., möchte nach einer schmutzigen Trennung nicht  alleine sein und hat zwei Kumpels eingeladen. Sie sitzen gemütlich bei einem Bier und Schokorosinen auf dem Sofa, genießen die durch ihre gleichgeschlechtliche Gesellschaft bedingte Freiheit von jeglichen Stylingzwängen und zocken.

Plötzlich zerreißt das Signal der Türklingel die konzentrierte Stille im Kreise der drei Freunde, welche bisher nur durch das leise Rattern der Maschinengewehre des Egoshooterspiels auf dem Bildschirm durchbrochen wurde. Vor der Tür steht Bens übermäßig bis hoch verdächtig gut gelaunter Nachbar, der erst vor kurzem in die Wohnung nebenan gezogen ist, streckt ihm ein Glas mit einer unbekannten aber wohlriechenden Flüssigkeit entgegen und sagt: „Wir haben gerade festgestellt, dass wir deine Wohnung noch nicht besichtigt haben und würden JETZT gerne mal kucken kommen. Möchtest du ein Getränk?“.
  
Ben hat so viel Dreistigkeit von jemandem, den er bisher nur vom Treppenhaussmalltalk kennt, nichts entgegenzusetzen. Außerdem steckt ihm der Trennungsschmerz noch merklich in den Knochen und er kann dem großzügigem Getränkeangebot nicht widerstehen. Just in dem Moment, als aus dem kurzen Zögern des jungen Mannes ein resigniertes Was-soll's-Gefühl wird und er mit dem schwindenen Muskeltonus des Arms, welcher die Tür bis dato nur einen Spalt breit geöffnet hielt, seine Bereitschaft zur Interaktion signalisiert, stürmen sieben angetrunkene und aufgekratzte Personen, von denen Ben im Vorbeirauschen des Geschehens gerade mal zwei flüchtig identifizieren kann, seine Wohnung.

Mittwoch, 13. Dezember 2017

Alle Jahre wieder: Herr, lass' Glühwein und Ohrenstöpsel regnen!

Im letzten Jahr gab es an dieser Stelle den GAYZEMBER. In diesem Jahr blieb mir  LEIDER die Mehrzahl der zuckerwattig-zauberhaftigen Erlebnisse mit meinen homosexuellen Einhornfreunden verwehrt, weswegen es mir nicht möglich war einen ganzen GAYZEMBER 2018 inhaltlich zu füllen. Verzeiht mir also, wenn ich es wie alle mache und irgendwas über Weihnachten schreibe. Es ist ein bisschen wie mit Glühwein. Eigentlich ist es immer nur Glühwein - allerdings kommt es auf die Qualität an. Und manchmal auch auf den entsprechenden Schuss. Bei mir gibt's viel Schuss. Mit ohne Aufpreis.


An sich mag ich Weihnachten. Mir bleibt im Grunde auch gar nichts anderes übrig, dann da wo ich herkomme wird Weihnachten zelebriert. So sehr, dass es sogar eine Art Weihnachtstourismus ins Land der Müllerin gibt und an den Wochenenden volkskunstgeile Rentner massenhaft von Reisebussen ausgespuckt werden. 

Soweit so gut. Wenn man an der Autobahn wohnt, hört man irgendwann den Verkehr nicht mehr. Für mich bedeutet Weihnachten, dass Weinkonsum jenseits abendlicher Dunkelheit relativiert wird solange die Spirituose dampft und sich in einer bunten Henkeltasse befindet. 
Keiner wundert sich über den Grinch als WhatsappProfilbild und im Radio laufen diese wunderbaren Weihnachtsschinken, die alle hassen. „Last Christmas“, "Driving home for Christmas" und Band Aid… sorry Leute, ich liebe es. Ich steh' sogar auf dieses uralte Mundartliedgut aus meiner Region, das jedem Auswärtigen ein Stirnrunzeln aufs Gesicht zaubert.  Und "Sind die Lichter angezündet" ist sowas wie Ritalin für eine Frau Müller, die kurz davor ist, jemanden mit Kräuselband zu erdrosseln.

Weihnachten ist ganz okay. Noch okayer sind Schnapspralinen im Adventskalender und Mäntel, die lang genug sind um unter der Last des Christstollens anschwellende Arschbacken und Oberschenkel zu kaschieren. Temperatur und Witterungsbedingungen legitimieren Netflix statt Outdoor. Bis an diesen Punkt hat die Weihnachtszeit etwas Beseeltes und Heimeliges. Hygge heißt das doch neudeutsch, oder?
 
Mit der Hygge isses aber spätestens vorbei, wenn das große Müllerkind Montagabend sagt: „Ach Mama, morgen Abend um sechs is das Weihnachtskonzert unserer Schule!“ Und weil ich die Hoffnung nicht aufgebe (oder einfach dumm und naiv bin), frage ich wie jedes Jahr: „Machst du da mit?“ 
– selbstredend macht er da mit. Es ist eine christliche Schule. Natürlich machen da alle mit. Und wo findet das Weihnachtskonzert einer christlichen Schule statt. Yeeehaa – sechs Richtige: In der Kirche natürlich. Freude, Freude!

Nun fragen sich die Kenner unter den Lesern sicherlich, warum eine Frau wie ich, mit einem quasi nichtvorhandenem Verhältnis zum christlichen Glauben, ihr Kind an eine solche Schule schickt. Wie soll ich das erklären. Hier auf dem Lande hat man bei der Entscheidung für eine Schule die Wahl zwischen Pest oder Cholera. Ich bin an sich ein Lokalpatriot und kaufe meine Weihnachtsgans beim Dorfbauern. Und auch bei der Auswahl der Grundschule gab ich zunächst der Bildungseinrichtung in Steinwurfentfernung eine Chance. Das Problem war allerdings, dass die Philosophie der Chancengeberei nicht auf beiden Seiten funktionierte und die Klassenlehrerin des großen Müllers anscheinend kein Fan der BigBangTheory war. Jedenfalls konnte sie mit dem leicht nerdigen Leistungsverweigerer, welcher sechs Jahre zuvor meinem Becken entsprang, nicht viel anfangen. 

Erlösung fanden wir tatsächlich in den flexibleren Unterrichtsmethoden und einem sehr viel humaneren Menschenbild der Privatschule in christlicher Trägerschaft aus dem Nachbarort. Nützt eben nix. Jetzt verweilt der große Müller eben dort und bereichert den Unterrichtsalltag mit glaubenskritischen Diskussionseinwürfen und unser Weihnachtsfest alljährlich mit einer Veranstaltung, bei der wir mitten unter betenden Menschen weilen.

Einziger Lichtblick ist der Weihnachtsmarkt direkt vor der Kirchentür. Zwei Tassen Glühwein mit Schuss vor Beginn des Programms ermöglichen mir zwar, das Ganze geistig durchzustehen, spätestens nach der ersten Viertelstunde nötigt mir meine Blase allerdings einen Besuch auf dem Heiligen Stuhl, also der Kirchentoilette, ab. Bemerkenswert finde ich, dass es dort angesichts der gesteigerten Luftfeuchtigkeit des alten Gemäuers, feuchtes Toilettenpapier direkt von der Rolle gibt. 

Es folgen 60 Minuten Inferno aus Kindern, die Instrumente foltern – Blockflöte from Hell – und pickligen Milchbärten, die mit brüchigem Bass den Einsatz beim Kanon verpassen. Die Kombination aus einer Geige, die klingt als würde sie das Lied vom Tod spielen und nicht „Leise rieselt der Schnee“, der Wirkung des Glühweins und der erhöhten Konzentration elterlicher Glückshormone in der Luft versetzt mich in einen tranceähnlichen Zustand in dem ich halluziniere, dass dem kleinen rothaarigen Mädchen aus dem Mittelgang plötzlich gewundene Hörner und Hufe wachsen und es dem Pfarrer an die Kehle springt.

Herr Müller reißt mich aus meinem Tagtraum, als er mich fragt ob es eigentlich erlaubt ist in der Kirche zu essen. „Hallooo? Weißt du wie egal mir das ist? Kuck, dort drüben, die stillt. Also kannst du auch essen. Außerdem wurde mir hier nie eine Hausordnung oder irgendwelche Nutzungsbedingungen präsentiert. Ich hab nichts unterschrieben.“
Herr Müller kramt in meiner Handtasche nach den gebrannten Mandeln vom Weihnachtsmarkt. Und während er mitten im Gebet mit der Tüte raschelt und geräuschvoll Mandeln knuspert, denke ich: Ein Eismann, so wie im Kino. Das wäre jetzt gut. Dann wäre auch ein Schild am Kirchenportal mit der Aufschrift „Verzehr von mitgebrachten Speisen und Getränken verboten“ legitim. Vermutlich würde ich Nachos mit Käsedipp essen. Hier drin isses ja schon kalt. Kirchen haben ein schlechtes Catering.

Weil wir nicht wie gute Eltern schon vor Einlass an der Kirchentür standen um die Plätze mit der besten Sicht zu ergaunern, sondern lieber zum Dienstagabend das Tagesgeschäft der Budenbetreiber auf dem Weihnachtsmarkt retteten, sitzen wir jetzt hinten irgendwo am Rand auf den Stühlen quer zur Betrichtung. Das hat den Nachteil, dass einen beim Mandeln knuspern strafende Blicke aus allen Richtungen treffen und man nur kurz einen Blick aufs im Klassenverband singende Müllerkind werfen kann. Unschlagbarer Vorteil dieser Plätze ist allerdings, dass man die betenden und singenden Menschen beobachten kann. Das ist echt lustig. Wer Walking Dead kuckt, kann die Faszination am Menschen verstehen.

Den krönenden Abschluss eines solchen Events bilden die Kinder mit den Kollektekörbchen am Ausgang. Herr Müller kann den Sanifair-Wertbon vom Autobahnklo nicht so schnell finden und ich entschließe mich spontan die Edeka-Treuepunkte doch lieber in neue Steakmesser zu investieren. Also klimpert man im Vorbeigehen nur kurz mit den Fingern im Kleingeld des Körbchens. Ihr wisst schon, wegen Weihnachtskarma und wegen des Eindrucks. 

Das mit dem Eindruck hat übrigens noch nie funktioniert, weswegen dem jüngeren Müllerkind die Beschulung mit Gottes Segen verwehrt wurde. Der geht jetzt in die Dorfschule nahe der Müllermansion und dank gesteigerter Anpassungsbereitschaft seinerseits und seitens seiner Lehrerin verglichen mit der Causa „Müllerkind 1“ klappt das auch ganz gut. Schade eigentlich für die Seelenfänger unterm Kruzifix, denn der jüngste Müller ist der Einzige mit Glaubensambitionen in der Familie. Nun gut, ich denke auch er lernt noch, dass die Gebrüder Grimm und StarWars glaubwürdiger sind.

Der Versammlungsort, an dem ich Ende der Achtziger eingeschult und den die Dorfbewohner Volkshaus nannten, wurde wenige Jahre nach meiner Schulanfangszeremonie dem Erdboden gleich gemacht. Das lag nicht an mir oder meinem Matrosenkleidchen von damals, sondern viel mehr an der Bausubstanz, die den neuen Standards nicht entsprach oder schlicht weg am Wandel der Zeit. Denke ich. Heute steht dort ein schmucker Prunkbau der Freiwilligen Feuerwehr. 
Da jedoch im Spritzenhaus zu wenig Platz für die Familien von acht Grundschulklassen ist und eine Bestuhlung der örtlichen Turnhalle zu aufwendig wäre, greift auch die staatlich-weltlich finanzierte Grundschule natürlich auf welchen Veranstaltungsort für das obligatorische Weihnachtsprimborium zurück? Selbstverständlich! Auf die Kirche!

Zwei Kirchenbesuche in einer Woche. Eigentlich ein Fall für Amnesty International, wie ich finde. Aber ich mach ja gerne den Märtyrer. Weil alle wissen, dass Zeit kostbar ist, Grundschüler sich besonders lange konzentrieren können und die Grundschullehrerinnen unter den Dörflern hier ein besonderes Geltungsbedürfnis haben, geht dieser darstellerische Schwanzvergleich der Unterstufenpädagogik ganze zwei Stunden. 

Immerhin wurden dieses Jahr die Eintrittskarten pro Familie auf Drei beschränkt. Entweder die Brandschutzbeauftragten der örtlichen Feuerwehr haben nach dem Chaos des letzten Jahres die Auflagen verschärft oder eine der Mütter im Elternbeirat hatte genau wie ich nicht im Schlafsack vor der Kirche übernachtet, um einen der wenigen Sitzplätze mit Blick auf die Aktionsfläche zu bekommen und musste ebenso auf graue Kaltwellen, Halbglatzen und die Digitalkamera-haltenden Filzärmel in gedeckten Farbtönen von Urgroßtante Ursula und Stiefschwippschwager Herbert starren.

Aktionsfläche ist das Stichwort. Die Architektur einer Kirche ist nicht gemacht für eine Revue mit 170 halben Menschen unter 1.50m. Sie ist gemacht für genau einen Selbstdarsteller, der viel zu viele Jahre Studium und damit vermutlich staatliche Ausbildungsförderung darauf verschwendet hat, etwas sehr hanebüchenesaus einem Buch zu studieren, dass mich bei der Lektüre in die Gefühlswelt eines Legasthenikers mit Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom schlüpfen lässt. Dieser Selbstdarsteller steht sonntags auf dem eigens für ihn gezimmerten hölzernen Podest und erzählt entweder schräges Zeug oder übersetzt grundlegende Regeln eines friedlichen und respektvollen Miteinanders ins Wort von Jesus Crispus. 

Jedenfalls haben alle frommen Menschen einen guten Blick auf den Referenten des Herrn. Ich habe jetzt nur einen guten Blick auf seine leere Kanzel und die geschnitzten Hipster in weißen Bettlaken an der Wand. Kinderstimmen kommen aus dem Off und Lautstärke steigt bei einigen Jungtalenten proportional mit gesanglicher Inkompetenz.
Hatte ich schon erwähnt, dass es in unserem Dorf  nur einmal im Jahr an einem einzigen Adventssonntag nachmittags öffentlich Glühweinausschank gibt. Dieser Tag ist nicht heute. Und der Ort, an dem das Büdchen steht, ist auch mehr als eine Becherfüllung von der Kirche entfernt.

Wie dem auch sei: wenn ich nach zu viel Tag – und dieser Tag war verdammt viel Tag für einen einzigen Tag – noch so nüchtern bin, ist der Grat zwischen resignierter Starre und emotionalem Ausbruch schmal. Es war nur Glück für die fremde Frau hinter dem großen Müllerkind, dass Herr Müller zwischen ihm und mir saß, als sie ihn recht unfreundlich aufforderte, das Handyspielen zu unterlassen. Niemand hätte den Bitchfight zum Ende des Programms dokumentieren können, weil alle Handyakkus am 6-Minuten-Löffelpolka starben. Und wenn das Kind nicht Handy zocken darf, dann faltet es eben Origami-Schwäne aus den herumliegenen Krippenspielflyern für Heilig Abend.

Ob nun ein flüchtiger Blick auf mein vor Publikum popelndes Kind, ein beherztes Gähnen seinerseits just in dem Moment als sich die Kaltwellen und Halbglatzen vor mir lichten oder aber ein mit inbrünstiger Mimik und Gestik vorgetragenes Lied: Bekommt Kinder, haben sie gesagt. Sie machen Freude, haben sie gesagt. Tun sie auch. Nur manchmal muss man die Freude eben suchen.

zwar nicht beim Geschenke einpacken oder
Teig ausrollen, aber möglicherweise
lenkt sie euch davon ab. Ob das jetzt
besser oder schlechter ist,
müsst ihr selbst entscheiden. Also
brav liken. Dann bringt euch auch
der Weihnachtsmann einen Gutschein
für den Drogeriemarkt. Oder so. 

Montag, 4. Dezember 2017

Grüße nach Absurdistan: Eltern sind auch nur Menschen! Ein Gastbeitrag

Gestern Abend habe ich mein Email-Postfach gewienert. Nicht das private Messi-Postfach mit ungelogen 7865 ungelesenen Mails (grausige Tatsache!) sondern das lehrerzimmereigene Frau Müller-Postfach. Das ist überschaubarer. Und weil ich das so emsig tat, hat mir der Nikolaus heute morgen einen Gastartikel geschenkt. So oder so ähnlich war's...

"Huhu - ich hab dir einen Blogartikel geschrieben - weil mir heute mal so war." Mit diesen Worten kündigte mir Mee Bodyless die Email per WhatsApp an. Mee ist Musikerin, nebenbei auch Mutter und Pädagogin und eine meiner langjährigsten Freundinnen. Wenn nicht sogar die Langjährigste. Definitiv die Langjährigste. Mit ihr teile ich  nicht nur Erinnerungen an eine gemeinsame Zeit auf der falschen Seite des erzieherischen Machtgefälles sondern auch das Glück, gelegentlich ziemlich spezielle Kinder zu haben...

Die Grippewelle ist im Anmarsch. Und da ich mich sorge, dass Frau Müller mal ausfällt, hab ich mich spontan und ungefragt in den Vertretungsplan eingetragen. Ganz uneigennützig ist das allerdings nicht - ich saß heute 2 Lehrern der Gymnasialstufe gegenüber und reflektierte gemeinsam mit ihnen das Sozialverhalten meines Sohnes im Unterricht. Ich befinde mich noch im Verarbeitungsprozess. Und auch wenn ich nicht veröffentlicht werde, wird mir das Niederschreiben meiner Erfahrungen mit Lehrern verschiedener Couleur sicherlich helfen.

Ich liebe Frau Müller. Sie ist meine Freundin. Schon lange. Und auch dann, wenn wir uns lange nicht hören. Und zwar bedingungslos. An meine Schulzeit erinnere ich mich nur partiell gern zurück. Und wenn, dann erinnere ich mich an Frau Müller. Mit ihren begnadeten, rhetorisch und visuell unschlagbaren Referaten über Kafka und Co übertraf sie selbst den leidenschaftlichsten Lehrer und holte mich, sicherlich ungewollt, aus meinem Sekundenschlaf zurück. Schon damals wünschte ich  mir, dass sie später die Lehrerin meiner Kinder werden würde. Schade, dass das nicht geklappt hat. Dann hätte ich jetzt vielleicht nicht folgende Probleme zu bearbeiten:

Ich war meinen Lebensaufträgen schon immer irgendwie voraus. Und als mein Sohn mit 4 Jahren damit begann, die Bundesligatabelle im Videotext hoch und runter zu lesen, wusste ich, dass bald Arbeit auf mich zukommen würde. Sozialarbeiter wittern das. So bemühte ich mich mehr als rechtzeitig um eine vorzeitige Einschulung.  Ich suchte Beratungsstellen, Begabungsforscher, freie Schulen, halbfreie Schulen, Hobbypsychologen und Schulen mit Gemeinschaftssinn und klassenstufenübergreifendem Unterricht auf. Am Ende wurde es die staatliche Schule auf dem Hinterwelterdorf,welches ich eigentlich verließ, um in der modernen Großstadt zu leben. 

Viel Auswahl hatte ich nicht, eigentlich gar keine. Denn die "Entfaltung der Persönlichkeit", wie im Kinder- und Jugendhilfegesetz beschrieben, hat in Schulen kein Gewicht. Zwei Dinge zählen: EINZUGSBEREICH und LEHRPLAN. Nur leider hat oftmals nur der Lehrplan einen Plan. Der Lehrer hingegen ist häufig planlos. Zumindest bei der Umsetzung des Plans. Und beim Versuch, keinen seiner Schüler der Planlosigkeit auszuliefern. 


Der Lehrer ist so voller Lehrplan, dass es ihm an Empathie für seine Schüler mangelt. Insbesondere bezüglich der verschiedenen Lernwege, Persönlichkeiten und Ressourcen. Am Ende landen die Eltern der Kinder, die fernab vom Mainstreben LEBEN, beim Verbindungsheft. Ich wollte mich zweimal dagegen wehren. Hatte aber keinen akzeptablen Gegenvorschlag, der messbar und kontrollierbar ist. Mein Vorschlag über "Beziehung" zu arbeiten wurde regelmäßig mit der Benennung der Gesamtschülerzahl abgeblockt. 

So brachte mir mein Sohn über 3 Jahre Tag ein, Tag aus,  kleine schriftliche Episoden aus dem Schulleben eines etwas zu intelligenten Schulkindes mit nach Hause. Das Beste nenn' ich gleich zuerst:

"Ben kommt morgens in der Schule an und fragt lauthals, ob alle Kinder ihren Penis mit hätten". Und damit nicht genug. Denn: "Dies fand er auch noch lustig!". Ich war entrüstet. Mein Sohn amüsiert sich in der Schule!!! 
Ich wäre nicht ich, wenn ich nicht entsprechend geantwortet hätte:  
"Liebe Frau..........., als mein Sohn gestern nach Hause kam, teilte er mir völlig echauffiert mit, dass ich doch wissen müsse, dass der PULLERMANN eigentlich ein PENIS sei. Er hat sich so über diesen neuen Begriff gefreut, dass er ihn jetzt auch in der Kommunikation verwenden möchte. Er war schon immer ein Freund der Wortspiele." Und so war es wirklich.

Auf Platz 2 ist dieser Kommentar: "Die Klasse plante heute einen gemeinsamen Besuch der Kirche. Ben teilte lauthals mit, dass er darauf keinen Bock hätte...". 

Bezüglich der Abneigung gegenüber des Kirchbesuchs antwortete ich, dass wir uns immer alle wundern, dass gerade Männer oftmals Probleme haben, ihre Gefühle zu benennen und dass ich meine Kinder aber so erziehe, dass sie es sich von Anfang an gleich angwöhnen. Zudem sei es pägagogisches Geschick, meinem Sohn das Christentum schmackhaft zu machen. Gerade mit Kindern, die mitteilungsbedürftig sind und tagtäglich wirklich alles hinterfragen, ist die Kirche doch wirklich der beste Ort um ins Gespräch zu kommen. Lehrplan versus Plan Gottes. Warum hat er eigentlich nicht gleich 2 Frauen und 2 Männer erschaffen? Wäre alles viel schneller gegangen und die Erderwärmung wäre jetzt noch nicht soweit voran geschritten.


Aber gut. Null-Bock-Einstellungen waren in der Schule noch nie angesagt. Es folgten noch viele weitere kuriose Mitteilungen aus dem Schulleben meines Sohnes. Am Ende tat er mir nur noch leid. Und ich mir auch. Einer wirklich tollen Lehrerin, die sich die Jahre zuvor scheinbar in der Kirche versteckt haben muss, ist es zu verdanken, dass das letzt Jahr irgendwie glimpflich und mit 1,0 Bildungsempfehlung ausging. Gott segne sie. Übrigens trägt sie den gleichen Vornamen wie Frau Müller. Bei ihr blieb mein Sohn auch am Nachmittag noch freiwillig sitzen. Denn gedisst wird nicht nur durch Lehrer, auch Horterzieher stehen ihnen da nicht nach.

Wir springen ins Jetzt. Zu meinem heutigen Elterngespräch. Ich sitze mit zwei schon sichtbar gezeichneten Junglehrern im Klassenzimmer meines Sohnes. Schon zu Beginn weist Ben mich darauf hin, dass er nur einen Teil der im Zimmer präsentierten Klassenregeln abgesegnet hätte. Somit hat er natürlich auch Probleme, sich dran zu halten. Ich habe Verständnis, bin aber auch vernünftig und teile ihm zum 187. Mal mit, dass ich meinen Arbeitsvertrag auch nur unterschrieben habe und mich keine Sau nach meiner Meinung gefragt hat. 

Gleich zu Beginn wird mir klar: Es handelt sich um die alte Leier. Langeweile, Störverhalten im Unterricht, doofe Sprüche, schlechte Konzentration, rücksichtsloses Verhalten, Minderleister. Hochbegabte halt. Als hätte es der Lehrer von Wikipedia raus kopiert. Meine Hoffnung, dass Junglehrer hier auf einem neueren Wissensstand sind, zerschlägt sich innerhalb von Sekunden. Ich höre mir an, dass Kinder ohne Haargummi, 90 Minuten im Sportunterricht auf einer Turnbank verbringen müssen. Entrüstet wird mir mitgeteilt, dass mein Sohn den kurzen Zeitraum von NEUNZIG MINUTEN nutzt, um auf sich aufmerksam zu machen, Kinder zu bespaßen, Comedians zu rezitieren und aufzustehen. 

Überhaupt steht er im Unterricht auf. Die Tatsache, dass er einer bewegten Grundschule entspringt, lässt die Junglehrer dann doch mal aufhorchen. Man kommt mir entgegen und ich gebe gute Tips. Weil ich so entzückt davon bin, stimme ich dem Verbindungsheft zu. Dabei dreht es mir mehrfach den Magen um. Ich nehme mir vor, dies zu unterbinden, wenn ich merke, dass auch die Lehrer sich nicht an unsere Absprachen halten. 

Nach dem Gespräch bin ich nicht zufrieden, denke mir aber, dass es hätte schlimmer sein können. Ich maßregle meinen Sohn, dass er künftig andere Kinder wenigstens korrekt beleidigen soll. Einen Vietnamesen als Chinesen zu betiteln ist schon ganz schön flach. Ich bin auch beleidigt, wenn ich Kindergärtner genannt werde. Ich frage mich, wie ich beruflich und privat die Rechte der Kinder durchkämpfen soll, wenn Kinder schon soweit sind, dass sie im Klassenrat die absurdesten Konsequenzen beschließen. Als ich höre, dass mein Kind bei 3 Strichen fürs Stören etwas abschreiben muss, rutscht mir kurz die Abkürzung DDR aus dem Mund. Ich frage nach einem inhaltlichen Bezug zum Vergehen - und den gibt es. Sinn macht er keinen, aber er ist da: "Es ist Nachmittag und eigentlich könnte ich jetzt mit meinen Freunden spielen. Da ich aber heute gestört habe, muss ich an diesem Text schreiben...".


Hier bin ich an dem Punkt, wo ich nicht mehr weiß, was ich sagen soll, außer DDR. Der Junglehrer täuscht sein modernes Handeln vor, indem er Sanktionen unter dem Deckmantel der kindlichen Partizipation an mich herantragen will. Die Kinder haben entschieden. Ich frage nach Alternativen. Die gibt es wohl, aber konkreter wird es nicht. Am Ende wittert der Sozialarbeiter Überforderung beim Junglehrer.

Liebe Lehrer, euren Job möchte ich nicht haben. Ihr aber, habt euch dafür entschieden. 

Ich habe monatelang gestillt, Wochen in Krankenhäusern verbracht und 200 Päckchen mit pädagogisch wertvollem Spielzeug bei Amazon bestellt. Wir waren immer viel draußen und ich habe keine wechselnden Lebenspartner. Ich habe mein Kind nach der Geburt sofort mit nach Hause genommen. Ben hat Hobbies, unsere Urlaube sind individuell und in der Gemeinschaft. Ich komme zu jedem Elternabend. Ich habe viel gelesen und Tipps gegeben, die Kita gewechselt, mich mit den Großeltern und meinem Ehemann gestritten. Ich kontrolliere jeden Tag das Hausaufgabenheft. Wir spielen am Wochenende bis 23.00 Uhr Siedler obwohl ich eigentlich lieber vögeln oder Gitarre spielen würde. Ich höre so oft wie möglich zu. Mein Kind geht auf Fußballspiele und Konzerte. (Obwohl Sonntag ist). Ich denke, ich bin dabei. Ich denke, wir rocken das. Aber jetzt - jetzt seid ihr auch mal dran...

Ich gebe zu, ich habe mich nur dazu entschieden diesen Artikel zu veröffentlichen weil er sowohl meine Persönlichkeit als auch meine ganz individuelle berufliche Kompetenz beweihräuchert.

Soll also keiner sagen, ich wettere nur gegen Eltern und im Speziellen Mütter. Ich geb ihnen hier sogar eine Stimme - übrigens als Teil der ständigen Aktion bzw. Blogparade "Flohmarkt der Gefühle". Vermutlich, weil sich diese Stimme mit meiner bei einer Flasche Rotwein nicht nur über Analverkehr und unsere gemeinsame Schulzeit sondern auch über anstrengend-kluge Kinder austauschen kann...

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